Kette aufziehen

Motor-Vergaser-Antrieb
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RELoeser
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von RELoeser »

Moin,

mein Mitfahrer hatte im Sommer während unserer Nordland-Tour auf freier Strecke eine gerissene Kette im Kasten ....
Ein Abschlepper brachte den defekten Roller zu einer kleinen Werkstatt in der nächstgrößeren Stadt.
In einem Fachmarkt erstanden wir sonntags (!!) eine passende Kette (D.I.D. 428 reinforced, 1/2" x 5/16", mindestens 70 Glieder, hier waren es über 100), der Werkstatt-Schrauber montierte diese an diesem Sonntag durch die Wartungsöffnung des Kettenkastens. Es dauerte zwei Stunden, bis die entscheidenden Kniffe für die Montage gefunden und entwickelt waren, dann lief der Roller wieder.
Erschwerend war, dass die alte Kette in "Hagelfetzen" war, somit nicht zur Verfügung stand, um die neue über das Antriebsritzel zu ziehen.

Nachfolgend die entscheidenden Schritte und Erkenntnisse, mit deren Anwendung die Reparatur erfolgreich durchgeführt wurde:
  • Erst einmal entfernten wir wirklich alle Reste, Brocken und den Rest-Ölschmier aus dem Kettenkasten, Sprüh-Bremsenreiniger und ein Magnetstab waren dabei sehr hilfreich.
  • Wir demontierten das hinteres Kettenrad. Das musste raus, weil die neue Kette sonst nicht in den Kettenkasten reinzubringen war. Sie ist nämlich in Querrichtung maximal steif, kann also nicht seitlich gebogen in die Öffnung geschoben werden.
  • Wir zogen das Hinterrad mit Bremstrommel so weit wie möglich aus der Hinterradschwinge in Richtung Auspuff, bis das freie Ende der Antriebsachse auf der Kettenseite fast bündig mit dem Radlager abschloss - damit war Raum geschaffen, die neue Kette als Zickzack-Stapel in den Kettenkasten zu legen (dorthin, wo sonst das Kettenrad wäre). Das ging einigermaßen gut, ohne den Auspuff zu demontieren, der Platz reichte gerade aus.
  • Die neue Kette wurde auf 70 Glieder abgelängt, ein Kettenschloss war im Lieferumfang.
  • Nun musste das oben liegenden Ende der Kette über das Antriebsritzel bugsiert werden. Nach vielen Fehlversuchen mit Zangen, Drahthaken, Stahlbügeln etc. funktionierte bei uns dann eine mit viel Tüftelei angefertigte "Gleitschiene" aus Kunststoff, die hochkant und leicht gebogen in den Kettenkasten eingeführt werden konnte und dann flach gedreht mit ihrem (passend geschliffenen) vorderen Ende bis zum Antriebsritzel reichte. Auf dieser Schiene wurde die Kette dann nach vorn geschoben und mit ihrem ersten Glied von oben auf das Antriebsritzel "gelegt".
  • Wir legten den ersten Gang ein und drehten den Motor (ohne Zündkerze) von Hand am Lüfterrad vorsichtig durch (dabei die richtige Drehrichtung des Morors beachten!). Die Kette wurde langsam vom Kettenrad mitgenommen, das freie Ende musste dann "nur noch" unterhalb des Antriebsritzels mit einem Teleskop-Magnetstab in Empfang genommen und nach hinten zum Montageloch geleitet werden.
  • Wir schlossen die Kette mit dem Kettenschloss, legten das hintere Kettenrad in die Kettenschlaufe und schoben dann die Antriebsachse wieder in Richtung Kettenkasten (d.h. Rad/Bremstrommel zurück an ihre richtige Position) in das Kettenrad hinein. Dabei gingen wir behutsam vor, das Kettenrad muss ja genau vor der Achse und deren Verzahnung stehen.
  • Die Mutter des Kettenrades wurde mit 160 Nm angezogen (entspricht der analogen Montage der Bremstrommel) und versplintet.
  • Die verbleibenden Restarbeiten dürften hinlänglich bekannt sein und werden hier nicht weiter ausdetailliert. Nicht zu vergessen ist aber, dass wir nun die vorgeschriebene Menge Öl in den Kettenkasten füllten, Ölmangel war mit einiger Wahrscheinlkichkeit die Ursache der Havarie.
Auf diese Weise wurde der Roller wiederhergestellt, bei richtiger Montage des Kettenschlosses gibt es auch keine Zweifel an dessen Festigkeit. Allein in den nachfolgenden rd. 10 Tagen fuhr der reparierte Roller rund 5000 km.

Ich füge mal eine PDF-Datei mit Bildern hinzu.
Dateianhänge
Bilder zur Kettenreparatur cc.pdf
(561.87 KiB) 113-mal heruntergeladen
Zuletzt geändert von RELoeser am 20.11.2025, 08:46, insgesamt 4-mal geändert.
Viele Grüße aus dem Norden,
Ralf Ernst
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Werner
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von Werner »

Nun mal ganz dezent nachgefragt: Hätte man das nicht durch Ölstand im Schwingarm kontrollieren verhindern können? Zumal es offenbar auf einer längeren Tour passiert ist. Wie alt war die Kette denn? Normalerweise hält sie doch sehr lange.
Arnulf
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von Arnulf »

Moin,

große Klasse Dein Tipp! Solche Kniffe sind anscheinend in den letzten 50 Jahren in Vergessenheit geraten.
Ich werde ähnlich verfahren, da auch meine Kette zu hängen beginnt.

Viele Grüße nach Lübeck

💪🏽
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RELoeser
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von RELoeser »

Lieber Werner,
kann ich leider nicht sagen, ich war ja nur mit Rat und Tat dabei...
Es soll auch Heinkelfahrer geben, die hinten kein Öl einfüllen, weil sie die Undichtigkeit in Richtung Bremse fürchten oder die Öl in einem geschlossenen Kettenkasten für überflüssig halten.

Aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es Vorzeichen gibt, die man jederzeit vorbeugend prüfen kann und beachten sollte:
  • Gibt es beim Rückwärts-Schieben schleifende oder klackernde Geräusche aus dem Kettenkasten?
    Dann ist mit einiger Wahrscheinlichkeit die Kette so gelängt, dass sie durchhängt und auf dem Boden des Kettenkastens schleift oder dass sie mit den Zähnen der Kettenräder "kämpft".
    Beim Vorwärts-Schieben merkt man das eher nicht, da dann der obere Teil der Kette durchhängt. Im fortgeschrittenen Stadium bemerkt man die Längung auch während der Fahrt am Geräusch sowie am Leer-Ruck bei Gaswechsel.
  • Hat man beim Fahren vielleicht gelegentlich oder gar regelmäßig Knacken oder Ruckeln im Kettentrieb?
    Dann sind vermutlich schon erste Rollen der Kette gebrochen. Deren Überreste kann man dann auch im Ölsumpf des Kettenkastens finden - entweder an der Magnet-Ablassschraube ( :wink: ) oder - wenn man den Deckel öffnet - beim Fischen mit einem Magneten im Ölsumpf.
Öffnet man den Deckel, so kann man sich die Bescherung auch live anschauen: Man kann das Durchhängen der Kette prüfen und sich jede einzelne Rolle anschauen. Wenn schon Rollen-Fragmente im Öl zu finden sind, kann es sehr schnell gehen mit dem Ketten-Exitus. Ein nackter Niet ohne Rolle ist das Todesurteil. Denn dann läuft an den Stellen, wo Rollen fehlen, der jeweilige Niet der Kette direkt auf dem Zahn des Kettenrades oder hängt in der Luft, dadurch tragen dann aber die anderen Rollen entweder mehr Antriebslast oder gar keine, was die punktuelle Belastung erhöht und zum Bruch weiterer Rollen oder mindestens eines Nietes führt - letzteres bedeutet dann den Riss der Kette. Eine richtige Kettenreaktion im Wortsinn!

Die genannten Alarmzeichen hatte es in unserem Fall in der Tat zuvor gegeben, wie ich gesprächsweise später erfuhr. Aus meiner Sicht ein ungeheurer Glücksfall, dass trotz Tempo 60 - 70 durch den Kettenriss keine weitere Komponente beschädigt wurde und nichs weiter passierte.

Wenn man die große (und teure) Komplett-Instandsetzung scheut (im Shop: Kette ca. € 35,-, Ritzel ca. € 50,-, Kettenrad ca. € 100,-) oder gerade nicht machen kann, so ist vor einer Havarie der beschriebene alleinige Tausch der Kette trotz aller Vorbehalte besser als ein Weiterfahren mit einer gelängten oder gar schon beschädigten Kette. Wegen verschlissener Kettenräder ist sie dann zwar wieder früher gelängt, aber erst einmal besser als Nichts oder o.g. Kettencrash.

Und noch ein Wort zur Zuverlässigkeit von Kettenschlössern:
Meine Söhne haben Motorräder mit 129 bzw. 159 PS - beide mit Ketten, in denen serienmäßig Kettenschlösser wirken. Auf die Idee, ein Kettenschloss mittels eines Schweißpunktes zu sichern, käme ich noch nicht einmal in meinem kühnsten Alptraum. DAS wäre m.E. wirklich gefährlich, weil niemand sagen kann, was durch die Schweißung mit der Festigkeit der beteiligten Stahlkomponenten passiert.
Lieber das Schloss fachgerecht (und in der richtigen Richtung) montieren, dann passiert auch nichts!

BTW: Den von uns verwendete Kettenkit gibt es z.B. hier (sogar mit 70 Gliedern zu konfigurieren): https://www.mykettenkit.de/did-standard ... rben-16822
Die dort aufgerufenen Euronen ermuntern geradezu dazu, bereits eine leicht verschlissene Kette ohne großen Rundumschlag zu ersetzen - dadurch leben auch die Kettenräder länger.
Viele Grüße aus dem Norden,
Ralf Ernst
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Schippy
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von Schippy »

Danke Ralf, für Dokumentation und Link zur passenden Kette :!:
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Olinger123
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Re: Kette aufziehen

Beitrag von Olinger123 »

Moin!
BTW: Den von uns verwendete Kettenkit gibt es z.B. hier (sogar mit 70 Gliedern zu konfigurieren): https://www.mykettenkit.de/did-standard ... rben-16822
Die dort aufgerufenen Euronen ermuntern geradezu dazu, bereits eine leicht verschlissene Kette ohne großen Rundumschlag zu ersetzen - dadurch leben auch die Kettenräder länger.
Dieser Tipp inkl. Link gehört in den Bereich "Tipps und Tricks".
Grüße aus dem Ruhrgebiet
Olaf
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